«Die Anliegen geflüchteter Frauen müssen Platz finden, zum Beispiel am Feministischen Streik 2023!»
Tahmina Taghiyeva, Verantwortliche des Projekts «Stimmen geflüchteter Frauen» über Solidarität, politische Mitbestimmung und ein Treffen mit der Bundesrätin.
Tahmina, du bist seit Juli 2022 Verantwortliche für das Projekt «Stimmen geflüchteter Frauen», was ist das Ziel dieses Projekts?
Über Geflüchtete wird sehr oft gesprochen, aber nur selten wird ihnen die Möglichkeit gegeben, selbst über ihre Anliegen zu sprechen. Das Stimmen-Projekt soll hier eine Plattform bieten, wo geflüchtete Frauen ihre Bedürfnisse äussern und in politischen Anliegen formulieren können. Die Projekttreffen schaffen zudem einen geschützten Raum, in dem sich die Teilnehmenden austauschen und solidarisch unterstützen können. Weiter sollen die Teilnehmenden die Chance haben, ihre Kompetenzen zu vertiefen und neue zu erwerben. Es ist wichtig, dass die Gruppe dabei selbst über Aktivitäten und deren Umsetzung entscheidet.
Mit welchen Herausforderungen siehst du dich dabei konfrontiert?
Eine Herausforderung ist sicherlich, dass sich die Situationen der Teilnehmerinnen teils stark unterscheiden: Einige Frauen leben in Asylunterkünften, haben vielleicht bereits einen negativen Asylentscheid bekommen und andere Frauen haben einen gesicherten Aufenthaltsstatus und leben in eigenen Wohnungen. Zum Glück sind die Frauen sehr solidarisch untereinander, so können wir verschiedene Themen und Bedürfnisse gemeinsam angehen.
Weshalb braucht die Schweiz ein solches Projekt?
Frauen werden in der Gesellschaft benachteiligt. Wenn sie zusätzlich migrantisch oder geflüchtet sind, oder sich sonst in einer prekären Situation befinden, wird ihnen der Zugang zu (Unterstützungs)angeboten zusätzlich erschwert. Es gibt zwar einige Projekte für Geflüchtete, aber nur wenige, die sich explizit an geflüchtete Frauen richten und geschlechterspezifische Anliegen (wie bspw. Kinderbetreuung) berücksichtigen. Zusätzlich sind solche Angebote oft nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Frauen abgestimmt. Das ist beim Stimmen-Projekt anders, da es eine grosse Partizipation der Teilnehmenden voraussetzt. Es soll ein Raum sein, in dem geflüchtete Frauen sich selbst organisieren, selbst entscheiden und mitgestalten können.
Politisches Mitgestalten ist ohne Schweizer Pass aber eher schwierig…
Viele denken, dass sie ohne Stimmrecht nichts ändern können. Als geflüchtete Frau und Aktivistin weiss ich, dass es andere Wege gibt, um sich politisch einzubringen. Beispielsweise durch die Teilnahme an Demos, die Präsenz auf Podien, die Durchführung von politischen Aktionen. Es geht darum, uns Gehör zu verschaffen und die Gesellschaft und politische Entscheidungsträger_innen herauszufordern. Geflüchtete sind oft Thema, häufig werden wir dabei für populistische Propaganda und Angstmacherei missbraucht, selten dürfen wir uns selbst äussern. Umso wichtiger, ist es zu sagen: Wir sind hier, wir sind Teil dieser Gesellschaft und wir haben Anliegen und Forderungen, die gehört werden müssen.
Welche Hauptforderungen stellen die Projektteilnehmerinnen an die Politik?
Viele geflüchtete Frauen erleben Gewalt in ihrem Heimatland, auf der Flucht oder in der Schweiz. Je nach Aufenthaltsstatus wird ihnen aber der Zugang zu Unterstützungsleistungen (bspw. psychologische Hilfe) verwehrt. Eine unserer Hauptforderung ist, dass Frauen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus vom Staat vor Gewalt geschützt werden und wenn sie von Gewalt betroffen sind, entsprechende Hilfe erhalten.
Wenn von Geflüchteten gesprochen wird, haben viele Menschen geflüchtete Männer vor Augen. Das sieht man überall. Im ganzen Asylsystem wurden und werden Frauen nicht mitgedacht. Das Mitdenken von geschlechtsspezifischen Bedürfnissen ist der rote Faden, der sich durch alle Forderungen zieht: Im Asylverfahren, in den Unterkünften, bei Unterstützungsangeboten muss der Faktor Geschlecht mitgedacht werden.
Dein persönliches Highlight im letzten Jahr
Die Reise nach Berlin zur Konferenz von Women in Exile. Dieses Treffen hat mir gezeigt, dass geflüchtete Frauen sich sehr gut organisieren und sehr grossen Einfluss haben können. Es gibt viele Flinta-Organisationen, die ihre Unterstützung und Solidarität gezeigt haben. Es war schön, dass wir zusammen da waren und uns aktiv beteiligt haben.
Natürlich auch, dass ich im Juni das Stimmen-Projekt als Projektverantwortliche übernehmen konnte, ich war vorher Projektteilnehmerin. Unterstützt werde ich dabei durch meine Kolleginnen Marwa Younes und Fatma Leblebici, beides auch Frauen mit Fluchterfahrung. Ich finde es sehr wichtig, dass das Projekt von geflüchteten Menschen geleitet und getragen wird.
Wahrscheinlich wird dieses Jahr ein Treffen mit der Bundesrätin und Vorstehenden des EJPD Elisabeth Baume-Schneider stattfinden. Weshalb ist es so wichtig, dass der direkte Kontakt zu Parlamentarierinnen stattfindet?
Der direkte Kontakt zu politischen Entscheidungsträger_innen ist wichtig, damit sie sich nicht entziehen können. Wir haben grosse Hoffnung, dass Frau Baume-Schneider nach ihren Prinzipien handelt und wir hier mehr Chancen bekommen, unsere Anliegen einzubringen. Zudem ist es eine schöne Erfahrung für die Teilnehmerinnen zu sehen, dass es hier möglich ist, direkt mit einer Bundesrätin zu sprechen.
Was möchtest du noch loswerden?
Wir schaffen es nicht alleine. Wir brauchen die Unterstützung der Gesellschaft. Die Anliegen geflüchteter Frauen müssen Platz finden, zum Beispiel am Feministischen Streik 2023. Ich wünsche mir mehr Unterstützung und Sensibilität. Vielleicht haben wir alle etwas andere Probleme, aber uns eint der Kampf gegen patriarchale Machtverhältnisse und Strukturen. Wir müssen unsere Kräfte, Ressourcen und Stimmen bündeln, um zusammen Grosses zu erreichen.