Gleichstellungsstrategie 2030: Leider keine Strategie, sondern eine verpasste Chance
Der Bundesrat hat die „Gleichstellungsstrategie 2030“ verabschiedet. Wesentliche Kritikpunkte bleiben bestehen.
Der Bundesrat hat an seiner heutigen Sitzung die „Gleichstellungsstrategie 2030“ verabschiedet. Ausgewählte Kreise wurden bereits im Herbst 2020 zu einem Hearing eingeladen, in dessen Rahmen ein Vorentwurf präsentiert wurde. 41 Organisationen und Gruppierungen haben in der Folge – koordiniert durch die Unterzeichnenden – inhaltliche und prozessuale Kritik geäussert und mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 an Bundesrat Alain Berset adressiert.
Die heute veröffentlichte Strategie hat gegenüber dem Vorentwurf kleine Verbesserungen erfahren. Die zentralen Kritikpunkte aber bleiben:
1. Der Bundesrat legt – wie er selbst sagt – ein „Arbeitsprogramm“ vor. Dieses beschränkt sich im Wesentlichen darauf, bestehende Aktivitäten aufzulisten und in einen strategischen Rahmen zu setzen. Ein ambitionsloses Arbeitsprogramm ist aber keine Strategie – schon gar keine Strategie für die nächsten 10 Jahre!
2. Gleichstellungspolitische Anliegen haben in den letzten Jahren eine enorme Dynamik erfahren. Der feministische Streik vom 14. Juni 2019 legte davon beeindruckend Zeugnis ab. Der Bundesrat verpasst es mit seiner „Gleichstellungsstrategie 2030“, diese Dynamik zu nutzen. Angesichts seiner Mutlosigkeit und des fehlenden Einbezugs des zivilgesellschaftlichen Wissens hat die Strategie kaum Potenzial, über den Einflussbereich der öffentlichen Verwaltung hinaus zu wirken. Auch damit verpasst der Bundesrat eine Chance.
3. Die Corona-Pandemie zeigt eindrücklich, wie systemrelevant unbezahlte und bezahlte Care-Arbeit ist. Die Strategie reflektiert Care-Arbeit trotzdem nur mit Blick auf Vereinbarkeit und Arbeitsmarkt. Die entscheidenden (Verteilungs-)Fragen, die mit Sorge- und Versorgungsarbeit als zentralem ökonomischem und gesellschaftlichem Faktor verbunden sind, bleiben so unbearbeitet.
4. Die Gleichstellungsstrategie verharrt im Zweigeschlechtermodell, in dem es nur Frauen und Männer gibt. Dass der Bundesrat in einer Gleichstellungsstrategie im Jahr 2021 nicht binäre Menschen ignoriert, ist inakzeptabel und steht im Konflikt zum Verfassungsauftrag, diskriminierungsfrei zu regieren. Auch die Nichtberücksichtigung des Themas der sexuellen Orientierung wird weder der Realität der Menschen noch ihren aktuellen Diskriminierungen und Gewalterfahrungen gerecht.
5. Der Entwurf ignoriert die Erkenntnis, wonach Diskriminierungen und Gewalt aufgrund des Geschlechts immer auch intersektional – also unter Berücksichtigung von Faktoren wie race resp. Ethnizität, soziale Schicht, Behinderung, Gesundheit, Alter, Religion, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsmerkmale, Aufenthaltstatus etc. – betrachtet und angegangen werden müssen. Dieser Perspektive muss der Bund in einer Gleichstellungsstrategie Rechnung tragen.
Für weitere Auskünfte:
Simone Eggler, Brava (ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz), Tel. 079 513 98 52, simone.eggler@brava-ngo.ch
Markus Theunert, männer.ch, Tel. 079 238 85 12, theunert@maenner.ch
Für spezifische Auskünfte zum Thema Geschlecht/Nichtbinarität:
Alecs Recher, Transgender Network Switzerland, Tel. 079 452 07 61
Für spezifische Auskünfte zum Thema Sorge-/Versorgungsarbeit (Care):
Anja Peter, Eidgenössische Kommission dini Mueter, Tel. 079 400 3555
Für spezifische Auskünfte zum Thema Sexuelle Orientierung:
Alessandra Widmer, LOS, 079 727 40 97, alessandra@los.ch