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«Wenn man mit geflüchteten Menschen arbeitet, braucht es Begegnungen auf Augenhöhe!»

Seit 2018 leitet Fatma Leblebici als Expertin für Flucht und Gewalt unsere Workshops mit und für Migrant_innen und geflüchtete(n) Frauen. Wie hat sich das Projekt entwickelt, welche Herausforderungen stellen sich und was braucht es, dass Angebote für Geflüchtete auch wirklich genutzt werden können?

Fatma, seit 2018 leitest du bei Brava die Empowerment-Workshops mit und für Migrantinnen und Geflüchtete. Worum geht es in diesem Projekt? 

Ursprünglich wollte Brava migrantische und geflüchtete Frauen über Geschlechtsbezogene Gewalt aufklären und sie über ihre Rechte und Möglichkeiten in der Schweiz informieren. Nicht etwa, weil sie häufiger betroffen sind, sondern weil sie weniger Zugang zu Informationen und Unterstützung haben.  

Als ich bei Brava anfing, liefen bereits Workshops für geflüchtete Frauen, allerdings ohne feste Form. 2019 entwickelten wir dann ein Konzept und entschieden uns, drei bis vier feste Frauengruppen zu organisieren, mit denen wir jährlich Workshops durchführen. Die Idee war, dass wir Themen so besser vertiefen und auch mehrere Workshops zum selben Thema für die gleichen Teilnehmerinnen anbieten können. 

Nach einem Jahr stellten wir fest, dass es sehr schwierig ist, Gewalt so offensiv zu thematisieren. Wir mussten also einen niederschwelligeren Ansatz finden. Wir fragten die Teilnehmerinnen, was sie in ihrem Alltag am meisten beschäftigt und welche Informationen sie brauchen. Es wurde klar, dass Themen wie Aufenthaltsrecht, Arbeit und Kindererziehung Priorität haben. Wir organisierten also Workshops mit Fachpersonen zu diesen Themen und versuchten dabei den Bogen zu den Themen Gewalt und Sexismus zu schlagen. Beispielsweise über geschlechtsspezifische Fluchtgründe, Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder Rollenbilder, etc.  

Die ursprüngliche Idee war es, dass immer eine Beratungsperson von Brava vor Ort ist, damit die Frauen bei Problemen direkten Kontakt aufnehmen können. Aufgrund begrenzter Ressourcen war das jedoch nicht immer möglich. Unsere Flyer für das Beratungsangebot sind aber immer dabei und wir informieren die Teilnehmerinnen aktiv über das Beratungsangebot von Brava. 

Welche Hindernisse oder Barrieren gibt es bei der Schaffung eines Angebots für geflüchtete Frauen, insbesondere im Bereich Gewalt? 

Geflüchtete Menschen, besonders Frauen, stehen vor vielen Herausforderungen. Sie erleben ein Machtgefälle, das ihnen das Gefühl gibt, keine Ansprüche stellen zu dürfen und möglichst unsichtbar sein zu müssen. Von Anfang an wird ihnen vermittelt, dass sie nicht willkommen sind. Sie befinden sich in ihnen fremden Strukturen, sprechen die Sprache nicht und erhalten oft wichtige Informationen zu Angeboten und Unterstützung nicht. Dadurch fühlen sie sich nicht als Teil der Gesellschaft und ihr Interesse für das Land schwindet, weil sie nicht teilhaben können. Das erschwert den Zugang zu unseren Angeboten.  

Weiter liegen die Prioritäten geflüchteter Frauen oft beim Spracherwerb, sicherem Aufenthalt, Arbeitsplatzsuche und der Betreuung ihrer Kinder. Sie haben oft keine Ressourcen, sich um eigene Gewalterfahrungen zu kümmern. 

Ein weiteres Hindernis ist das begründete Misstrauen gegenüber staatlichen Stellen. Die Behörden, mit denen sie in Kontakt sind, wie Sozialdienste und Asylzentren, sind oft nicht ausreichend sensibilisiert. Durch negative Erfahrungen mit Behörden entsteht Misstrauen, das sich auch auf Organisationen wie Brava überträgt, da der Unterschied zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen nicht immer klar ist. Vertrauen aufzubauen, braucht Zeit.  

Wie baut ihr diese Barrieren ab? 

Wir arbeiten mit sogenannten Schlüsselpersonen, die Teil der jeweiligen Community sind. Diese übernehmen die Kommunikation mit der Gruppe und definieren zusammen mit den Teilnehmerinnen die Themen der Workshops. Ebenso wichtig ist, dass sie uns für die spezifischen Bedürfnisse und Eigenheiten der Gruppen sensibilisieren. Beispielsweise wenn es darum geht, ob ein Thema angesprochen werden kann oder nicht. 

Die Schlüsselpersonen sind nicht nur im Rahmen unserer Angebote wichtige Ansprechpartnerinnen, sondern auch im allgemeinen Leben der Teilnehmerinnen. Sie bieten Unterstützung bei Problemen und helfen bei der Lösungssuche, wodurch sie eine vertrauensvolle Beziehung zu den Frauen aufbauen. 

Um ein inklusives Angebot zu schaffen, ist es essenziell, eine Übersetzung in die Erstsprache zu gewährleisten oder – noch besser, eine Fachperson zu organisieren, die dieselbe Sprache spricht. Viele Frauen sprechen im Alltag Deutsch, aber bei spezifischen Themen ist es wichtig, dass sie Informationen in ihrer Erstsprache erhalten. Dies stellt sicher, dass sie alles verstehen und sich sicher fühlen, Fragen zu stellen. 

Ein oft übersehener, aber unglaublich wichtiger Aspekt ist die Kinderbetreuung. Ohne sie könnten wir die Workshops nicht durchführen. Da die Frauen einen Grossteil der Care-Arbeit übernehmen, müssen sie ihre Kinder mitbringen können. Eine zuverlässige Betreuung sorgt dafür, dass die Frauen sich während des Workshops entspannen und konzentrieren können, da sie wissen, dass ihre Kinder gut versorgt sind. 

Damit die Teilnehmer_innen überhaupt von unserem Angebot gebrauch machen können, erstatten wir ihnen die Reisekosten zurück. Menschen, die beispielsweise in Asylzentren leben, haben nur sehr wenig Geld pro Tag zur Verfügung, das schliesst sie von vielen Angeboten aus.  

Du leitest das Projekt seit 6 Jahren. Auf was bist du besonders stolz?

Ich bin stolz darauf, dass wir seit drei bis vier Jahren kontinuierlich mit bestimmten Gruppen zusammenarbeiten. Die Beziehungen haben sich stabilisiert, und die Teilnehmerinnen möchten weiterhin an den Workshops teilnehmen. Ich habe viel gelernt und viele Frauen kennengelernt, wodurch ich die Bedürfnisse der Gruppen besser verstehen und berücksichtigen kann. 

Mittlerweile kommen die Frauen mit einer neuen Haltung zu den Treffen. Wir sind nicht mehr nur Fachpersonen für sie, sondern auch Freundinnen. Sie können sich uns anvertrauen und fühlen sich wohl. Besonders stolz bin ich darauf, dass die Schlüsselpersonen inzwischen selbst in der Lage sind, thematische Inputs zu geben. Auch die Teilnehmerinnen bringen sich aktiv in die Workshops ein und übernehmen Aufgaben. 

Diese Entwicklungen zeigen, dass wir mit unserem Angebot nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch das Vertrauen und das Selbstbewusstsein stärken können. 

Wie wird sich das Projekt in Zukunft entwickeln? 

Ich würde gerne weiter Gruppen in jedem Kanton aufbauen, mindestens eine pro Kanton und aus verschiedenen Kulturen und Ländern. Eine Vision ist, dass sich diese Gruppen untereinander vernetzen. Es wäre grossartig, wenn die Gruppen irgendwann so selbstständig wären, dass sie uns gar nicht mehr brauchen. 

Ausserdem wäre es wünschenswert, genug Ressourcen zu haben, um spontan auf Anfragen von Frauengruppen reagieren zu können. So könnten wir flexibel auf die Bedürfnisse der Frauen eingehen und unser Angebot weiter ausbauen. 

Was möchtest du noch loswerden? 

Es gibt viele Angebote für geflüchtete (Frauen), in dem sie selbst aktiv engagiert sind. Oft wir ihr Engagement aber als selbstverständlich angesehen. Projektleitende erhalten Lohn, während geflüchtete Frauen nur die Möglichkeit bekommen, etwas zu lernen oder sich zu beschäftigen, obwohl sie oft auf ein Einkommen angewiesen sind. Als Projektleitende lernen wir ebenfalls und werden dafür entlohnt – das sollte auch für geflüchtete Frauen gelten. Wenn man mit geflüchteten Menschen arbeitet, braucht es einen Kontakt auf Augenhöhe und eine Sensibilisierung. 

Für alle, die Projekte für und mit geflüchteten Menschen (insbesondere Frauen) machen wollen: Es braucht Übersetzung, Kinderbetreuung und die Übernahme von Reisekosten. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Frauen diese Angebote auch tatsächlich nutzen können.  

Was weiter häufig vergessen geht: Viele dieser Frauen haben hohe Qualifikationen und berufliche Erfahrungen. Es ist wichtig, sich zu reflektieren und zu verstehen, was Flucht bedeutet und wie es ist, alles zurückzulassen und als fremde Person in einem neuen Land zu leben. 

Auch Sozialdienste sollten diese Sensibilisierung durchlaufen, da es oft an Verständnis fehlt. Es ist entscheidend, das Machtgefälle in der Zusammenarbeit mit geflüchteten Frauen zu reduzieren, um eine echte Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu ermöglichen.