«The future is inclusive!»
Sim Eggler, Verantwortlich_ Politische Arbeit über Lobbying, Repräsentation und die Anfänge der Sexualstrafrechtsreform.
Sim, du bist verantwortlich für die Politische Arbeit von Brava, wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Politische Arbeit bei Brava bedeutet vor allem reden (lacht). Man vernetzt sich mit Behörden, Aktivist_innen, Politiker_innen und Organisationen, um in enger Zusammenarbeit eine politische Veränderung zu erwirken. Diese Arbeit beinhaltet natürlich auch viel strategisches Denken. Man muss einen Plan haben und gleichzeitig flexibel und reaktionsfähig sein, um zu reagieren, wenn sich unverhofft eine Tür öffnet. Kommt es dann bestenfalls zu einem positiven Parlamentsentscheid, ist das zwar ein Meilenstein, ein grosser Teil der Arbeit beginnt aber erst danach: Die Umsetzung der geforderten Änderungen und Massnahmen muss gut beobachtet und begleitet werden, damit sie sinnvoll und zielführend ist.
Wie kommt ihr zu den Themen, die ihr auf politischer Ebene angeht?
Die Probleme und Missstände kennen wir aus der praktischen Arbeit von Brava (bspw. in der Beratung, Bildung oder aus dem Stimmenprojekt) oder aus der Arbeit anderer Organisationen. Der direkte Bezug zu Betroffenen ist dabei extrem wichtig, denn sie sind die Expert_innen ihrer Situation. Massnahmen, die ohne Bezug zur Praxis geplant werden, machen keinen Sinn. Deshalb ist es ein beträchtlicher Teil meiner Arbeit, einzufordern, dass Entscheidungsträgerinnen diese Expertise von Betroffenen wie auch von Fachpersonen einholen. Sehr oft wird das nämlich nicht gemacht.
Das Ja des Nationalrats zu einer «Nur Ja heisst Ja»-Lösung in der Wintersession letztes Jahr war ein riesiger Erfolg, wie kam es zustande?
Dieser Erfolg hat gezeigt, was passiert, wenn unterschiedliche Akteurinnen ihr Wissen bündeln: Fachpersonen, NGOs, Politiker_innen, Betroffene – ganz viel Leute haben hier ihren Beitrag geleistet. Dafür braucht es natürlich gute Kommunikation und Planung. Für Aussenstehende ist es oft nicht nachvollziehbar, wie viel Energie, Schweiss und auch mal Tränen in so ein Geschäft einfliessen. Die betreffende Debatte wurde zu Beginn sehr chauvinistisch geführt, indem Fachpersonen und Betroffenen ihre Expertise abgesprochen wurde. Gemeinsam konnte dennoch eine enorme Kraft entwickelt werden und durch die grosse Vorarbeit und Unterstützung einer starken feministischen Bewegung wurde diese Veränderung und dieses Umdenken in Sachen Sexualität und Consent überhaupt möglich. So eine gesellschaftliche Veränderung innerhalb von nur vier Jahren zu erwirken, ist ein aussergewöhnlicher Erfolg!
Welche anderen Erfolge konnten letztes Jahr gefeiert werden?
Die ganze Legislatur 2019 – 2022 war ein Erfolg aus Brava-Sicht. Auch 2022 haben wir grosse Brocken durchgebracht. Es gibt endlich regelmässige Präventionskampagnen auf nationaler Eben zu Geschlechtsbezogener, Sexualisierter und Häuslicher Gewalt. Dies wurde von vielen Fachpersonen schon lange gefordert, 2022 ist es durchgekommen. Auch wird es Prävalenzstudien zu Gewalt geben. Durch diese regelmässigen Bevölkerungsbefragungen erhoffen wir uns mehr und detaillierteres Wissen zum Thema und damit eine bessere Grundlage für unsere Arbeit.
Zwei ganz wichtige Geschäfte, die wir zusammen mit anderen auf einen guten Weg gebracht haben, sind Tatort Ausland (auch Menschen, die auf der Flucht oder im Herkunftsland Gewalt erlebten, haben Anrecht auf spezialisierte Unterstützung) und AIG 50 (Besserer Schutz für Gewaltbetroffene durch den eheunabhängigen Aufenthaltsstatus). Massnahmen, die schon lange nötig sind und gefordert werden, aber erst jetzt, auf Grund des wachsenden Bewusstseins, einer starken feministischen Bewegung und der günstigen Zusammensetzung des nationalen Parlaments, eine Chance haben.
Du bist auch stark involviert in das Netzwerk Istanbul Konvention...
Die Istanbul Konvention gilt seit 2018 in der Schweiz. Sie hat massgeblich geholfen, eine Dynamik aufzubauen, die dazu führt, dass Gewalt immer mehr zum Thema wird und verstärkt dazu gearbeitet wird. Es ist ein wichtiger Referenzrahmen für uns, da wir uns auf konkrete Verpflichtungen der Schweiz berufen können. 2022 hat die unabhängige Expert_innenkommission GREVIO erstmals die Schweiz besucht und viele Organisationen getroffen, um sich in vertraulichem Rahmen über Probleme bezüglich Geschlechtsbezogener und Häuslicher Gewalt auszutauschen. Das Resultat dieses Verfahrens wurde im Herbst in Form eines Berichts veröffentlicht. Er beinhaltet rund 70 Verbesserungsvorschläge für die Schweiz, mit teils hoher Dringlichkeit. Angeprangert wird beispielsweise, dass zu wenig Geld gegen Gewalt gesprochen wird, der Faktor Geschlecht oft nicht beachtet wird.
Mit welchen Problemen siehst du dich in deiner Arbeit konfrontiert:
Ein grundlegendes Problem wurde schon angesprochen: Entscheidungsträgerinnen holen Fach- und Erfahrungswissen nur selten oder gar nicht ein. Das heisst, dass in einem ersten Schritt das entsprechende Verständnis geschaffen werden muss, damit bspw. Parlamentarier_innen ohne die Expertise von Fachorganisationen und Betroffenen keine Vorstösse einreichen oder Massnahmen gestalten. Bei einem beträchtlichen Teil der Vorstösse, die eingereicht werden, hatten die Parlamentarier_innen nie Kontakt zu Fachexpert_innen und Betroffenen. Was es bräuchte, wäre ein systematischer Einbezug dieser Expert_innen. Es kann nicht sein, dass Gesetzte verändert oder erarbeitet werden, ohne Stimmen aus der Praxis einzuholen.
Eine weitere Herausforderung ist, dass NGOs zu wenig Ressourcen haben für die Arbeit auf politischer Ebene. Von ganz vielen Missständen und Themen können also nur ausgewählte angegangen werden.
Weiter fehlt der Willen seitens Politik, um genug Ressourcen für die Bekämpfung von Gewalt zur Verfügung zu stellen. Inzwischen sagt zwar niemand mehr, dass Gewalt kein Problem ist, aber sobald es darum geht, Ressourcen zu sprechen, zeigt sich, wer es wirklich ernst meint.
Was möchtest du noch betonen, was ist dir wichtig?
Es ist wahnsinnig wichtig, dass Gewalt auf die politische Agenda gekommen ist. Aber es fehlt noch am Bewusstsein, die Arbeit zu Gewalt inklusiv und intersektional zu gestalten. Ganz viele Gruppen bleiben noch unter dem Radar, beispielsweise Menschen mit Behinderung, geflüchtete oder queere Menschen. Ein Beispiel aus der Praxis: Zwar wird in absehbarer Zeit eine 24-h Beratung für Gewaltbetroffene geschaffen, die Kommunikationsmöglichkeit beschränkt sich aber auf Telefonieren. Das schliesst gewisse Menschen aus.
Die unterschiedlichen Betroffenheiten und Realitäten von Betroffenen von Gewalt müssen in der Umsetzung zwingend mitgedacht werden. Es kann nicht sein, dass wir bei der Umsetzung von Massnahmen gegen Gewalt nur an eine weisse, gut gebildete, Mittelstands-, cis Frau ohne Behinderung und mit Schweizerpass denken. The future is inclusive!